SUBSTANTIVIERUNG DEs INFINITIVs

 

Der Infinitiv gehört zu den Nominalformen des Verbs, denn er weist neben den verbalen auch nominale Eigenschaften auf.

Der Infinitiv ist die Nennform des Verbs: er nennt nur die verbale Handlung ohne direkten Bezug auf Person, Zahl und absolute Zeit und wird als Bestandteil einer Verbalform gebraucht – auch verbum infinitivum genannt.

Man unterscheidet im Deutschen sechs Infinitive: den Infinitiv I und II Aktiv, den Infinitiv I und II Passiv, den Infinitiv I und II Stativ.

Der Infinitiv I Aktiv wird vom Präsensstamm mittels des Suffixes -(e)n gebildet: trag-en, lauf-en. Die Verben mit -el, -er im Stammauslaut bekommen das Suffix -n: sammel-n, feier-n.

Der Infinitiv II Aktiv wird aus dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv I jeweils des Hilfsverbs sein oder haben gebildet: tragen – getragen haben, laufen – gelaufen sein.

Die transitiven Verben haben außerdem noch den Infinitiv I und II Passiv und den Infinitiv I und II Stativ.

Der Infinitiv I Passiv wird aus dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv I des Hilfsverbs werden gebildet: tragen – getragen werden.

Der Infinitiv II Passiv wird aus dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv II des Hilfsverbs werden gebildet. Dabei gebraucht man die ältere Form des Partizips II vom Verb werdenworden: tragen – getragen worden sein.

Der Infinitiv I Stativ wird aus dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv I des Hilfsverbs sein gebildet: erfüllen – erfüllt sein.

Der Infinitiv II Stativ wird aus dem Partizip II des Vollverbs und dem Infinitiv II des Hilfsverbs sein gebildet: erfüllen – erfüllt gewesen sein.

Der Infinitiv kommt in der Regel nur in Verbindung mit einem finiten Verb vor. Dabei bezeichnet der Infinitiv I die Gleichzeitigkeit der Handlungen, die durch das Vollverb und durch den Infinitiv ausgedrückt werden, oder die relative Zukunft: Ich freue mich, dich zu sehen (Gleichzeitigkeit der Handlungen). Wir hoffen bald einen Brief von Frank zu bekommen (relative Zukunft). Der Infinitiv II drückt die Vorzeitigkeit und die Abgeschlossenheit der durch den Infinitiv angegebenen Handlung aus: Marta bereut es, dem Mädchen nicht die ganze Wahrheit gesagt zu haben.

Die Sätze mit dem Infinitiv entsprechen oft Nebensätzen mit der Konjunktion dass, z.B.:

Heutzutage sind viele Menschen daran gewöhnt, hart zu arbeiten. (= Heutzutage sind viele Menschen dar­an gewöhnt, dass sie hart arbeiten.)

Anna freut sich, alle Prüfungen erfolgreich bestanden zu haben. (= Anna freut sich, dass sie alle Prüfungen erfolgreich bestanden hat.)

Der Infinitiv anstelle eines dass-Satzes ist nur möglich, wenn das Subjekt im Hauptsatz mit dem Subjekt im dass-Satz identisch ist, z.B.:

Ali glaubt, dass er bald in seine Heimat reisen kann. Ali glaubt, bald in seine Heimat reisen zu können.

Betty hofft, dass ihre Freundin bald kommt. (Kein Infinitiv ist möglich!)

Eine Ausnahme von dieser Regel ist denkbar bei den Verben des Bittens, Befehlens oder Ratens (auffordern, befehlen, bewegen, bitten, empfehlen, raten, verbieten, verlangen, warnen, zwingen u.Ä.) sowie bei helfen im Hauptsatz, z.B.: Sie bat ihn, dass er nicht raucht. → Sie bat ihn, nicht zu rauchen.

Dabei wird nach einer Reihe von Verben fast aus­schließlich der Infinitiv gebraucht (z.B.: es ablehnen, an­fangen, aufhören (damit), beabsichtigen, befehlen, beginnen, sich bemühen (darum), be­schließen, sich entscheiden (dafür), sich ent­schließen (dazu), gelingen, neigen (dazu), planen, probieren, (es) verbieten, vergessen, es vermeiden, versuchen, verzichten darauf, vorhaben, es wagen, sich weigern). Der Infinitiv aber ist nicht möglich nach vielen Verben des Sagens (z.B. nach antworten, berichten, erzählen, fragen, sagen) und der Wahrnehmung (z.B.: auffallen, bemerken, beobachten, erkennen, feststellen, hören, riechen, sehen, spüren, wahrnehmen), auch nicht nach dem Verb wissen.

Der Infinitiv kommt nach den Verben glauben und scheinen mit modaler Bedeutung vor. Dabei hat die Fügung „glauben + zu + Infinitiv“ eine subjektive Bedeutung, sie bezeichnet eine Vermutung, die vom Handlungsträger ausgeht. Die Fügung „scheinen + zu + Infinitiv“ hat eine objektive Bedeutung und bezeichnet eine Vermutung des Redenden bzw. Schreibenden: Er scheint krank zu sein. ‘Îí, êàæåòñÿ, áîëåí’. Er glaubt krank zu sein. ‘Åìó êàæåòñÿ, ÷òî îí áîëåí’.

Der Infinitiv wird auch in den Konstruktionen: „haben +zu+Infinitiv“, sein +zu+Infinitiv“ gebraucht. Die Konstruktion „haben + zu + Infinitiv“ hat eine aktive Bedeutung und drückt die Notwendigkeit aus: Die Studenten haben dieses Buch zu lesen. ‘Ñòóäåíòû äîëæíû ïðî÷èòàòü êíèãó’. Die Konstruktion „sein + zu + Infinitiv“ hat eine passive Bedeutung und drückt die Notwendigkeit oder die Möglichkeit aus: Dieses Problem ist sofort zu lösen. ‘Ýòó ïðîáëåìó ñëåäóåò ðåøèòü íåìåäëåííî’. Dieser Artikel ist nicht so leicht zu übersetzen. ‘Ýòó ñòàòüþ íå òàê óæ è ëåãêî ïåðåâåñòè’.

Den Infinitiv kann man substantivieren. Der substantivierte Infinitiv ist sächlichen Geschlechts. Er wird wie ein Substantiv dekliniert und wird meist mit dem bestimmten Artikel gebraucht: Zum Lesen brauchte die alte Oma eine Brille. Ein substantivierter Infinitiv kann – gleich einem Substantiv – nähere Bestimmungen bei sich haben: Er liebte das Gehen über Land, das Steigen auf Berge.