Die Analphabetin

Auch in Österreich gibt es erwachsene Menschen, die nicht lesen und schreiben können – trotz allgemeiner Schulpflicht. Unfähig, ein Straßenschild oder Preise zu entziffern. Und immer ängstlich bemüht, ihr Manko vor anderen zu verbergen. Ein hartes Los.

I. Analphabetismus gilt als Behinderung oder Makel. Oder auch ganz einfach als nicht existent, denn die allgemeine Schulpflicht garantiert eine lückenlose Beherrschung der Kulturtechniken Lesen und Schreiben im ganzen Land.

II. Statistiken der UNESCO, einer Teilorganisation der Vereinten Nationen, kommen indes zu einem anderen Schluss: Ihnen zufolge leben allein in den europäischen Industrieländern (einschließlich Osteuropa) an die 20 Millionen Analphabeten. Dazu steigt weltweit der Prozentsatz der sogenannten sekundären Analphabeten beständig an – jener Erwachsenen also, die lesen und schreiben nach der Schule wieder verlernt haben. Geschätzte absolute Zahl: 814 Millionen rund um den Globus. Hält die Entwicklung an, wird es im Jahr 2 000 eine Million Beispiele dafür geben.

III. Emma R. wird als primäre Analphabetin eingestuft. Im Klartext: Die gebürtige Ungarin hat nie eine Schule gesehen, denn als ältestes von 17 Kindern wurde sie damals von den Eltern im Haushalt in die Pflicht genommen. Für Schulstunden blieb da keine Zeit. Trotz ihres Schicksals hat es Emma immerhin fertiggebracht, sich selber das Zählen, die Uhrzeit und ein paar Brocken Ungarisch beizubringen, obwohl zu Hause und in ihrer gesamten Verwandtschaft ausschließlich Deutsch gesprochen wurde.

IV. Primäre Analphabeten wie Emma R. sind in Österreich denn auch krasse Einzelfälle. Weitaus verbreiteter ist das Phänomen des sekundären Analphabetesmus. Menschen, die zwar acht Jahre zur Schule gegangen sind doch die dort erlernten Fähigkeiten im Laufe der Zeit wieder vergessen haben. Das Gemeine dabei: In der Regel wird ihnen ihre Unfähigkeit, Gelesenes intellektuell zu erfassen, erst bewusst, wenn sie deswegen im Beruf scheitern.

V. Im Gegensatz zu anderen Ländern sind Statistiken und Literatur zu diesem heiklen Thema in der Alpenrepublik nur ansatzweise verfügbar. Ein Streiflicht auf die Verhältnisse warf zuletzt wohl eine UNESCO-Untersuchung aus dem Jahr 1990. Die Studie analysierte die Bildung von 1 300 Österreichern. Das deprimierende Ergebnis: 17,2 Prozent der getesteten Personen im Alter zwischen 17 und 30 Jahren waren nicht in der Lage, eine simple Postkarte zu schreiben.