Die Lehre von Phonem

Das Phonem wird anders der Sprachlaut genannt im Unterschied zum Sprechlaut, der eine Realisation eines Phonems durch den Sprecher darstellt. Die Sprachlaute sind phonologisch relevante (bedeutungsunterscheidende, wesentliche) Signale. Der Sprechlaut (der Laut) ist materiell, individuell, unwiederholbar, momentan, unzählbar. Der Sprachlaut (das Phonem) dagegen ist abstrakt, zählbar, konstant.

Es gibt in der linguistischen Literatur recht viele Definitionen des Phonems. Die einen Phonologen verstehen unter dem Phonem eine Klasse von Lauten (L.W. Ščerba) oder eine abstrakte Einheit, einen Lauttyp, der in Form einer Klasse von Lauten realisiert wird (V.E. Coseriu, A.A.Reformazkij, R.I.Awanessow, R.R.Kaspranskij). Sie vereinigen sich zu einer Klasse nicht durch ihre physikalischen Eigenschaften, sondern durch ihre Sprachfunktion.

Die anderen betrachten das Phonem als eine minimale phonologische Einheit, die eine distinktive Funktion ausübt (N.S.Trubezkoj) oder als ein Bündel von differenzierenden Merkmalen (W.A.Uspenskij).

Die erste Deutung beruht auf dem Text, die zweite - auf dem System der Sprache (strukturell-funktionelle Deutung).

Für alle Definitionen ist allgemeingültig, dass das Phonem die kleinste lineal nicht mehr teilbare unabhängige Einheit der lautlichen Seite der Sprache ist, die die Lautgestalten der bedeutungstragenden Spracheinheiten bildet und gleichzeitig sie unterscheiden kann. Anders gesagt, das Phonem ist der kürzeste Teil des Redestroms. Lineal ist das Phonem nicht teilbar, aber vertikal ist es teilbar, denn es setzt sich aus einer Gesamtheit von differenzierenden Merkmalen zusammen. Fast in allen phonologischen Schulen bezeichnet man die Phoneme mit schrägen Strichen / … / und die Laute - mit eckigen Strichen […]. Mit solchen eckigen Strichen <…> bezeichnet man die Phoneme in der Moskauer phonologischen Schule.

Die Vertreter der LphSch verstehen unter dem Phonem die kleinste artikulatorisch-akustische Spracheinheit, die Wörter und Wortformen unterscheidet. Für sie ist das Phonem ein konkreter Laut, der in Form von seinen Schattierungen existiert. Man kann es sogar unter besonders günstigen Bedingungen hören und aussprechen. Das Phonem beruht für die Leningrader auf seinem artikulatorisch-akustischen Bild und auf seiner distinktiven Funktion. Es besteht "an und für sich", unabhängig von den Lautgestalten der Wörter und Morpheme.

Für die MphSch ist das Phonem ein Bestandteil des Morphems. Nach der Moskauer Ansicht kann man das Phonem nicht mit einem konkreten Laut identifizieren. Es sei eine abstrakte lautliche Einheit. Das Verhältnis zwischen Phonem und Laut könnte man aus dieser Sicht dem Verhältnis zwischen Wesen und Erscheinung gleichsetzen (vgl. "Mensch" und "ein konkreter Mensch namens N." oder "Frau" und "eine konkrete Frau namens N.").

Den Unterschied in der Deutung des Phonems zwischen der LphSch und MphSch kann man an solchem Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir Nom. Sg. äóá und Gen. Sg. äóáà. Für die Moskauer geht es hier um die Varianten ein und desselben Phonems / Á/, weil die beiden Laute "n" und "á" Bestandteile ein und desselben Morphems sind. Für die Leningrader gehören diese "n" und "á" zwar zu demselben Morphem, aber sie unterscheiden verschiedene Formen des Wortes, deshalb werden sie zu verschiedenen Phonemen gezählt (vgl. auch "âîäà", "âîäíûé", "âîäÿíîé" oder "íîðà" und "íîðû").

Funktionen des Phonemssinddie tektonische (konstitutive) Funktion; die differenzierende (unterscheidende, distinktive) Funktion und die vereinigende (integrierende) Funktion.

Die tektonische Funktion des Phonems ist als Baustoff für höhere Spracheinheiten (Morpheme, Wörter) aufzufassen, denn sie setzen sich aus einzelnen Phonemen in bestimmter Reihenfolge zusammen.

Die distinktive Funktion des Phonems besteht darin, daß die Phoneme verschiedene Wortformen unterscheiden, an die bestimmte semantische und grammatische Bedeutungen gebunden sind. Also, das Phonem unterscheidet die Bedeutungen der Wörter nicht direkt, sondern indirekt durch ihre Lautgestalten. Man kann diese Funktion gleichzeitig als Identifikationsfunktion bezeichnen, weil sie die Wörter und Wortformen nicht nur unterscheidet, sondern auch sie identifiziert.

Die integrierende Funktion der Phoneme besteht darin, daß sich die Wörter und Wortformen mit relativ gleicher Lautgestalt sich vereinigen lassen, was ihre Einprägung erleichtert und was in der Poesie vielfach benutzt wird, vgl.: glatt - statt, Ort - Mord etc.

Die phonologisch-wesentlichen Merkmale ("wesentlich", "differenzierend", "relevant", "unterscheidend", "phonematisch", "phonologisch", "distinktiv", "differenzial") sind die charakteristischen Besonderheiten artikulatorisch-akustischer Art, die den meisten Realisationen des Phonems eigen sind. Die Beibehaltung dieser wesentlichen Eigenschaften ermöglicht ihre Identifizierung. Das Phonem ist lineal nicht mehr teilbar. Vertikal aber setzt sich das Phonem aus minimalen Artikulationen zusammen, was mit Einschaltung bzw. Ausschaltung der Stimmlippen begleitet wird. Beispielsweise liegen dem deutschen Phonem /o:/ die folgenden ph.w. Merkmale: Quantität (lang), Qualität (geschlossen), Labialisierung, Reihenzugehörigkeit (hintere Reihe), Zungenhebungsstufe (mittlere Stufe). In diesem Sinne ist das Phonem teilbar.

Arten von ph.w. Merkmalen sind die modalen Merkmalen und die lokalen Merkmale.

Die modalen Merkmalen beschreiben die Art und Weise, wie das Phonem erzeugt wird (stimmhaft oder stimmlos, offen oder geschlossen, Verschluß- oder Engelaut).

Die lokalen Merkmale beschreiben die Stelle, an der das betreffende Phonem gebildet wird (alveolar, oder palatal oder velar etc.). Die Vokalphoneme besitzen keine lokalen ph.w. Merkmale, denn sie haben keine lokalen Charakteristika.

Die Funktionen der ph.w. Merkmale sind die tektonische (konstitutive, gestaltende) Funktion, die distinktive (unterscheidende, differenzierende) Funktion und die integrierende (vereinigende) Funktion.

Die tektonische (konstitutive, gestaltende) Funktion der ph.w. Merkmalen ist als Baustoff für Phoneme aufzufassen. Jedes Phonem beruht auf den ph.w. Merkmalen, die diesem Phonem zugrundeliegen, vgl. das Phonem /b/: stimmhaft, ungespannt, explosiv, bilabial.

Die distinktive (unterscheidende, differenzierende) Funktion und die integrierende (vereinigende) Funktion der ph.w. Merkmalen treten in der Regel gleichzeitig zutage. Fast jedes ph.w. Merkmal übt gleichzeitig integrierende und distinktive Funktion aus. So vereinigt das ph.w.M. des Verschlusses solche Phoneme wie /b/, /p/, /m/ etc. und gleichzeitig trennt es sie von allen anderen Engephonemen, z.B. von /f/, /s/, /x/ etc. Es gibt aber solche ph.w. Merkmale, die nur die tektonische und distinktive Funktion ausüben, z.B. Vibration (das Phonem /r/).

Neben phonologisch-wesentlichen Merkmalen gibt es phonologisch unwesentliche Merkmale ("irrelevante", "reduntante", "phonetische", "integrale"). Sie unterscheiden sich von den ph.w. Merkmalen dadurch, daß sie keine tektonische Funktion ausüben. Sie sind einfach Begleiterscheinungen. Zu ihnen gehören beispielsweise Neueinsatz der Vokalphoneme, Aspiration von den stimmlosen Konsonantenphonemen /p/, /t/, /k/.

Die Oppositionbedeutet zwei Phoneme, die sich wenigstens durch ein einziges phonologisch-wesentliches Merkmal voneinander unterscheiden, bilden eine Opposition, vgl. /a:/ - /a/. Die Oppositionsglieder unterscheiden sich voneinander nur durch ihre Quantität.

Arten von Oppositionen

Eindimensionale und mehrdimensionale Oppositionen - bei der eindimensionalen Opposition gelten die beiden gemeinsamen ph.w. Merkmale für kein anderes Phonempaar derselben Sprache, vgl.: eindimensional sind die Oppositionen /f/ - /v/, /p/ - /b/, /g/ - /k/ und mehrdimensional sind z.B. /d/ - /b/, denn es gibt /t/ - /p/, oder /g/ -/z/, denn es gibt /k/ - /s/.

Proportionale und isolierte Oppositionen - bei den proportionalen Oppositionen treffen ihre Merkmale auch für andere Oppositionen zu. Wenn dies nicht der Fall ist, so gelten die Oppositionen als isoliert, vgl.: proportionale Oppositionen - /p/ - /b/, /t/ - /d/, /k/ - /g/, /s/ - /z/, /f/ - /v/; isolierte Oppositionen - /p/ - /S/, /r/ - /l/, /h/ - /k/.

Privative, graduelle, äquipollente Oppositionen - bei den privativen Oppositionen unterscheiden sich ihre Glieder durch Vorhandensein bzw. Fehlen eines ph.w. Merkmals, vgl. /d/ - /t/, /g/ - /k/, /z/ - /s/. Die graduellen Oppositionen sind solche, deren Glieder sich gleichzeitig verschiedene Grade eines ph.w. Merkmals unterscheiden, vgl. /o:/ - /u:/, /i:/ - /e:/, /ö:/ - /ü:/. Bei den äquipollenten Oppositionen unterscheiden sich ihre Glieder voneinander durch mehrere ph.w. Merkmale, vgl. /p/ - /d/, /g/ - /s/, /t/ - /g/.

Konstante und neutralisierbare (aufhebbare) Oppositionen - die konstanten Oppositionen sind unter allen Bedingungen gültig, d.h. ihre ph.w. Merkmale wirken immer differenzierend. Bei den neutralisierbaren Oppositionen können ihre ph.w. Merkmale in bestimmten Positionen aufgehoben werden, vgl. konstant - /p/ -/t/, /k/ - /s/; neutralisierbar - /d/ - /t/, /z/ - /s/. Falls sich eine und dieselbe Opposition in mehreren Phonempaaren wiederholt, so geht es um eine Phonemkorrelation nach dem betreffenden ph.w. Merkmal, vgl. /g/ - /k/, /d/ - /t/, /v/ - /f/ - eine Phonemkorrelation nach der Stimmbeteiligung.

Phonemvariantensind die Realisationen der Phoneme als solche in der Rede. Die Vertreter der Leningrader ph.Sch. nennen sie Schattierungen, die der Glossemantik - Allophone, und die der Moskauer ph. Schule unterscheiden Varianten und Variationen.

Unter den Variationen werden solche Realisationen des Phonems verstanden, die nie mit Realisationen anderer Phoneme zusammenfallen.

Die Varianten dagegen sind solche Realisationen des Phonems, die mit Realisationen eines anderen oder mehrerer Phoneme zusammenfallen können. Abgesehen von all diesen Feinheiten bei der Deutung der Phonemvarianten werden in der Phonetik obligatorische (stellungsbedingte und kombinatorische), fakultative und individuelle Arten von Varianten ausgesondert.

Die obligatorischen Varianten eines Phonems sind durch ihre Stellung im Redestrom bedingt, daher nennt man sie stellungsbedingte oder positionsgebundene Varianten, vgl. /g/ und /k/ in den Wortformen "sage"; "sagt" oder /t/ mit Aspiration und /t/ ohne Aspiration in den Wörtern "Tasche" und "stehen" oder das konsonantische -R- und das vokalisierte -R- in den Wörtern "werden" und "rot". Dabei unterscheidet man Hauptvarianten und Stellungsvarianten. Die Hauptvarianten sind solche Realisationen, bei denen all die artikulatorisch-akustischen Merkmale des betreffenden Phonems beibehalten werden. Bei den Stellungsvarianten geht ein Teil dieser Merkmale verloren.

Die fakultativen Varianten des Phonems lassen ihre freie Wahl zu, z.B. das Zungenspitzen-R, das Zäpfchen-R und das Engereibe-R.

Die individuellen Varianten sind in der Regel einem Individuum eigen und stehen zur Sprachnorm im Widerspruch, z.B. Lispeln bei der Aussprache der Laute /s, z/ oder das palatalisierte -Sch- in allen Positionen.

Position des Phonemsisteine Stellung in der Lautstruktur eines Wortes oder eines Morphems auf syntagmatischer Ebene.

Starke und schwache Positionen der Phoneme

R.I. Avanesov führte in die Phonologie die Begriffe‘starkes’ und ‘schwaches’ Phonem, ‘starke’ und ‘schwache’ Position. In starken Positionen werden die Phoneme am deutlichsten ausgesprochen. In der starken Position behält das Phonem alle seine charakteristischen Züge bei. Starke Phoneme kommen in den maximal differenzierenden Positionen vor, z.B. im Russischen: [ru’da], [na’ga] ist das akzentuierte [a] ein starkes Phonem; oder im deutschen Wort Studium ist das [u:] in der ersten Silbe ein starkes Phonem (es befindet sich in starker Position).

In schwachen d.h. in den minimal differenzierenden Positionen erscheinen schwache Phoneme. In schwachen Positionen verändern sich die materiellen Eigenschaften des Phonems. Diese Veränderungen entstehen unter dem Einfluss der angrenzenden Laute oder infolge schwacher Betonung. Beispielweise steht in den russischen Wörtern ìîëîêî, ïîòîëîê das Vokalphonem /o/ in den ersten zwei Silben in schwachen Positionen. Das /o/ wird undeutlich (qualitativ reduziert) ausgesprochen und ähnelt dem Vokal [a].

Die starken Positionen für die deutschen Konsonantenphoneme sind der Anlaut und der intervokalische Inlaut. Die schwache Position für die deutschen Konsonantenphoneme ist der Auslaut.

Die starke Position für die deutschen Vokale ist ihre Stellung in einer betonten Silbe und die schwache Position - in einer unbetonten Silbe.

Eine Abart der schwachen Position ist die Position der Neutralisierung, in der das betreffende Phonem mit einem oder mehreren anderen Phonemen zusammenfällt. In diesem Fall geht es um das sgn. Archiphonem (Prager phonologische Schule) oder um das Hyperphonem (Moskauer phonologische Schule) oder das “schwache Phonem” im Unterschied zum “starken Phonem” (R.I.Awanessow).

Allgemeingültige und spezielle starke Positionen

Es sind allgemeingültige und spezielle starke Positionen zu unterscheiden. Allgemeingültige Positionen sind allen Sprachen eigen, spezielle starke Positionen können in verschiedenen Sprachen verschieden sein. Für allen Sprachen gilt z.B. als starke Positionsbedingung eine ruhige neutrale Mitteilung in Prosa, in der es keine logisch-kontrasten Gegenüberstellung und keine Emotionsäusserungen gibt. Bei der Bestimmung der speziellen starken Positionen geht man von diesen allgemeinültigen starken Positionsbedingungen aus.

Das System ist eine Gesamtheit von Sprachelementen, die miteinander durch ständige Beziehungen verbunden sind.

Das Lautsystem einer Sprache ist eine Gesamtheit von Lauttypen - Hauptvarianten, Stellungsvarianten und freien Varianten, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen.

Das Phonemsystem erfaßt nur die Phoneme einer Sprache, die zueinander in bestimmten Beziehungen stehen. Zahlenmäßig ist das Phonemsystem viel geringer als das Lautsystem.

Das phonologische System ist die Gesamtheit von phonologisch-wesentlichen Merkmalen, die dem Phonemsystem einer Sprache zugrundeliegen und die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen. Es geht dabei vorwiegend um die Beziehungen, die mit Kompatibilität (ñîâìåñòèìîñòü) bzw. Inkompatibilität zusammenhängen. Kompatibel sind z.B. in deutscher Sprache das Merkmal der Verschlußbildung und das der Labialität, vgl. /m,p,b/; inkompatibel sind z.B. das Merkmal der Nasalität und das der Engenbildung.

Ordnungsprinzipien des Laut- und Phonemsystems -das Laut- und Phonemsystem beruht auf zwei Prinzipien: auf dem Prinzip der Symmetrie und auf dem der Ökonomie.

Das Prinzip der Symmetrie besteht darin, dass aufgrund der gemeinsamen ph.w. Merkmale das Phonemsystem in kleinere Gruppen von Phonemen (Teilsysteme, Reihen, Serien) zerfällt, in denen sich die Phoneme einander symmetrisch sind, vgl.: /b/ /d/ /g/; /p/ /t/ /k/; /m/ /n/ /n/.

Das Prinzip der Ökonomie besteht darin, dass jedes System von Sprachlauten und Sprachphonemen immer eine begrenzte Anzahl von Elementen enthält. Sie schwankt in verschiedenen Sprachen zwischen 10 - 90 Phonemen. Dabei gibt es eine Gesetzmäßigkeit: je weniger ist die Anzahl der Phoneme, desto länger sind die Wörter in der betreffenden Sprache. Die Sprache nützt bei weitem nicht alle theoretisch möglichen Phonemkombinationen. Wäre es der Fall, so gäbe es in der Sprache Millionen von Wörtern. Sonst zählt jede Sprache kaum eine Million Wörter. Im Laufe der Sprachgeschichte verändert sich die Anzahl von Phonemen, phonologisch-wesentlichen Merkmalen viel langsamer als die Anzahl von Wörtern und grammatischen Wortformen.