Phonetische Charakteristik des deutschen Wortakzents

Unter dem Wortakzent versteht man eine artikulatorisch-akustische Hervorhebung einer Silbe im mehrsilbigen Wort. Das einsilbige Wort hat keinen Wortakzent, denn der Akzent ist keine absolute, sondern relative Größe. Die Betonung bezieht sich nicht auf einen Vokal, sondern auf eine Silbe innerhalb eines mehrsilbigen Wortes.

Die Hervorhebung einer Silbe im Wort erfolgt mit Hilfe von Tonstärke, Tonhöhe und Tondauer. Je nach dem, welches von diesen Mitteln vorherrscht, unterscheidet man drei Akzenttypen: den musikalischen (melischen, melodischen, tonalen, chromatischen) Akzent, den dynamischen ((Stärke-, Expirations- oder Ausatmungsakzent) und den quantitativen Akzent. Den rein musikalischen Wortakzent haben z.B. Japanisch, Chinesisch, Vietnamesisch; den rein dynamischen Akzent - Tschechisch und den rein quantitativen Akzent - Neugriechisch (manche Sprachforscher zählen dazu auch Russisch). Meistenteils haben die Sprachen einen gemischten Akzenttyp. Nach Auffassung der meisten Germanisten ist der deutsche Wortakzent dynamisch-musikalisch, denn die Silbe in den deutschen Wörtern wird gleichzeitig durch stärkere Muskelspannung, stärkeren Ausatmungsdruck und durch eine Tonhöhenveränderung hervorgehoben.

Der russische Wortakzent ist eher quantitativ-dynamisch, denn jede betonte Silbe wird etwas prolongiert und mit stärkerer Muskelspannung und stärkerem Ausatmungsdruck gesprochen. Außerdem ist der russische Wortakzent qualitativ, denn jede betonte Silbe wird deutlich artikuliert, die unbetonten Silben dagegen erfahren eine quantitative und qualitative Reduktion (vgl. облако aber облака).

2. Morphonologische Charakteristik der deutschen Wortbetonung

Bei der Charakteristik des Wortakzents aus morphonologischer Sicht muß man folgende Fragen beantworten:

1) Ist der deutsche Wortakzent frei oder gebunden

2) Ist der deutsche Wortakzent beweglich oder unbeweglich

3) Wieviel Betonungsstufen kann das Wort haben

4) Welche Akzentmodelle gibt es im Deutschen

Zu 1) Bei der Antwort auf die Frage, ob der deutsche Wortakzent frei oder gebunden ist, gehen die Meinungen der Germanisten auseinander. Die einen behaupten, der deutsche Wortakzent sei gebunden, weil er meistenteils auf der ersten Silbe, d.h. auf der Wurzelsilbe liegt. Die anderen sind der Ansicht, der deutsche Wortakzent sei frei, weil er numerisch auf verschiedenen Silben liegan kann (auf der ersten, zweiten, dritten etc.), vgl. Arbeit, Natur, Bäckerei. Man muß aber diese unterschiedlichen Meinungen nicht gegenüberstellen, denn aus phonetischer Sicht ist der deutsche Wortakzent frei (er liegt numerisch auf verschiedenen Silben) und aus morphologischer Sicht ist er gebunden (er liegt immer auf einem Morphem - Wirzel- oder Affixmorphem - und nie auf einer Flexion). Der russische Wortakzent ist sowohl aus phonetischer, als auch aus morphologischer Sicht absolut frei.

Zu 2) Die Antwort auf die zweite Frage, ob der deutsche Wortakzent beweglich oder unbeweglich ist, ist recht eindeutig. Der deutsche Wortakzent ist mit wenigen Aunahmen unbeweglich, denn bei der Wortbildung und Wortveränderung verschiebt sich der Akzent in der Regel nicht auf andere Silben, vgl. arbeite, arbeitest, arbeitet etc.; arbeiten, Arbeit, Bearbeitung etc. Es gibt nur wenige Ausnahmen aus dieser Regel, vgl. Professor-Professoren, leben-lebendig, Charakter-Charaktere. Der russische Wortakzent ist meistenteils beweglich, vgl. верчу, веретено, вертишь, вертел.

Zu 3) Die Festlegung der Betonungsstufen ist auf der Grundlage des Menschengehörs kaum möglich und wäre nicht sinnvoll, denn je besser ist das Gehör des Menschen, desto mehr Betonungsstufen kann man unterscheiden. Prof. L.R.Sinder schlägt vor, die Betonungsstufen nur auf der Grundlage der Hauptfunktion der Betonung nachzuweisen - und zwar auf der Grundlage der delimitativen (abgrenzenden) und distinktiven (unterscheidenden) Funktion der Betonung. Daher wäre es sinnvoll, bezüglich der einstämmigen Wörter über eine Betonung zu sprechen und bezüglich der mehrstämmigen - über zwei Betonungsstufen: über die Hauptbetonung und Nebenbetonung.

Zu 4) Ausgehend von der vorhergehenden These kann man in den einstämmigen Wörtern drei Hauptakzentmodelle festlegen:

- / x / - Wurzelbetonung, vgl.: Antwort, fahren, wunderbar;

- / - x / - Präfixale Betonung, vgl.: Ureltern, Mißernte, untauglich;

- / x - / - Suffixale Betonung, vgl.: Bücherei, adoptieren, miserabel.

Die russischen einstämmigen Wörter haben neben den oben genannten Akzentmodellen noch ein Modell: Felxionsbetonung, was der deutsche Sprache fremd ist.

Die deutschen mehrstämmigen Wörter weisen je nach der Anzahl von Stämmen und je nach der Reihenfolge von Haupt- und Nebenbetonung die folgenden allerwichtigsten Akzentmodelle auf:

- / x x / - Hauptbetonung liegt auf dem ersten Stamm, Nebenbetonung - auf dem zweiten, vgl.: Taugenichts, freisprechen, wasserdicht;

- / x x / - Hauptbetonung liegt auf dem zweiten Stamm, Nebenbetonung - auf dem ersten, vgl.: Jahrhundert, frohlocken, bergab;

- / x x x / - Hauptbetonung liegt auf dem ersten Stamm, Nebenbetonung - auf dem letzten, vgl.: Flugzeughalle, mutterseelenallein, wiederstandsfähig;

- / x x x / - Hauptbetonung liegt auf dem mittleren Stamm, Nebenbetonung - auf dem ersten und dritten, vgl.: Altweibersommer, jahrhundertealt;

- / x x x / - Hauptbetonung liegt auf dem letzten Stamm, Nebenbetonung - auf dem ersten, vgl.: Westnordwest, schwarzrotgold, einhundertachtzig;

- / x x x x / - Hauptbetonung liegt auf dem ersten Stamm, Nebenbetonung - auf dem vorletzten, vgl.: Fußballwettspiel, Hochbaufahrstuhl.

Die russischen mehrstämmigen Wörter haben mit wenigen Ausnahmen die Hauptbetonung immer auf dem letzten Stamm.

3. Die Funktionen des Wortakzentes

Es ist üblich, über drei Funktionen des Wortakzentes zu sprechen: über die kulminative (gestaltende, gipfelbildende, zentralisierende, kostitutive), delimitative (demarkative, abgrenzende) und distinktive (differenzierende, unterscheidende, semantische) Funktion.

Kulminative Funktion. Jedes mehrsilbige Wort hat unbedingt eine am stärksten betonte Silbe. Diese Silbe bildet sozusagen einen Gipfel, um den sich alle anderen neben- und unbetonten Silben gruppieren. Dadurch fällt das Wort nicht auseinander. Man kann daher behaupten, daß diese Funktion der Betonung die allerwichtigste ist, denn sie sichert die phonetische Ganzeinheit des Wortes. Im Russischen kommt diese Funktion der Betonung noch krasser zum Ausdruck, denn der russische Wortakzent ist qualitativ.

Demarkative Funktion. Die demarkative Funktion des Wortakzents ist in den Sprachen mit freiem Wortakzent passiv. Diese Funktion ist aktiv nur in den Sprachen mit dem gebundenen Wortakzent. Dort ist es verhältnismäßig leicht, die Grenze zwischen den einzelnen Wörtern zu ziehen. Im Deutschen kommt diese Funktion der Wortbetonung beschränkt zum Ausdruck, denn er ist morphologisch gebunden, aber phonetisch frei. Dafür gibt es in deutscher Sprache zusätzliche Grenzsignale, wie z.B. Neueinsatz, bestimmte Lautkombinationen, die entweder im Auslaut oder im Anlaut des Wortes vorkommen können.

Distinktive Funktion. Diese Funktion der Betonung ist den beiden Sprachen eigen und sie betrifft die Wörter mit der gleichen Lautgestalt, die sich je nach der Stellung des Akzents semantisch unterscheiden, vgl. August und August, modern und modern; молодец und молодец, замок und замок, мука und мука. Im Russischen kann man mit Hilfe der Betonung auch grammatische Formen des Wortes unterscheiden, vgl.: горы und горы, руки und руки, дорогой und дорогой. Prof. L.R.Sinder schlägt vor, nicht über die distinktive Funktion der Betonung zu sprechen, sondern über die wortidentifizierende. In diesem Fall trifft diese Funktion der Betonung auf alle mehrsilbigen Wörter der Sprache zu. Sie besteht darin, daß jedes Wort die Betonung unbedingt auf einer bestimmten Silbe hat. Die willkürliche Verlagerung des Akzents auf eine andere Silbe des Wortes würde es zerstören und das Wort wird nicht identifiziert (wieder erkannt), vgl. gestrige, gering.